Emmanuel Dollé, ehemaliger Google- und Meta-Executive: „Verwechselt ein Auge fürs Detail nicht mit Mikromanagement.“

Nur wenige Führungskräfte können von sich behaupten, dass ihre Karriere sie durch drei weltbekannte Unternehmen geführt hat. Nach einer Reihe von Führungspositionen bei Google ist Emmanuel Dollé zur Leitung der Vertriebs- und Marketingteams in dem riesigen Technologieunternehmen geworden. Meta half er dabei, Vertriebsaktivitäten in der EMEA-Region neu zu definieren. Dabei begann seine Karriere in einer ganz anderen Branche: Er war 11 Jahre lang bei Renault tätig, um unter anderem bei der weltweiten Einführung der Mégane-Reihe zu unterstützen.
In einem Gespräch mit ELVTR erläuterte Emmanuel, was seiner Meinung nach die Grundlagen der Unternehmensführung sind. Er teilte auch seine Gedanken zu den Auswirkungen der Pandemie und der aktuellen Krise im Technologiesektor. Nachdem er vor kurzem erfolgreich eine Risikokapitalfirma mitgegründet hat, teilte er außerdem seine Sicht auf das Unternehmertum und verriet, welche Führungspersönlichkeiten ihn inspirieren.
Welche Rolle spielt die Führungskraft in einer Zeit, in der auch KI wichtige Entscheidungen treffen kann?
Ich denke, die Rolle bleibt unverändert. Die Menschen überschätzen manchmal die Auswirkungen der Technologie. Natürlich hilft die Technologie, optimale Entscheidungen zu treffen. Aber sie bleibt letztendlich ein Tool, und die Rolle der Führungskräfte bleibt wichtig.
Die menschliche Führungskraft ist diejenige, die für das Management und die strategische Ausrichtung der Organisation verantwortlich ist.
Der Technologiesektor steckt momentan in einer turbulenten Zeit. Was hast du über Führung in Krisenzeiten in diesem Sektor gelernt?
Zwei Dinge sind für eine gute Führung in Zeiten der Krise, aber auch des Wachstums, entscheidend. Wichtig ist die Authentizität, also die persönliche Herangehensweise, mit der man eine Organisation und ein Team führt. Dazu gehört auch die Fähigkeit, zuzuhören.
Aber auch rechtzeitige Entscheidungen und klare Kommunikation sind in Krisenzeiten für Authentizität wichtig. Wenn man in der Lage ist, rechtzeitig die richtigen Entscheidungen zu treffen und diese klar zu kommunizieren, können sie die anderen Beteiligten besser nachvollziehen und Vertrauen aufbauen.
Nehmen wir zum Beispiel einige Entscheidungen, die in letzter Zeit von großen US-amerikanischen Technologieunternehmen getroffen wurden, vor allem Entlassungen. Eure Stakeholder:innen - Mitarbeitende, Investoren:innen, Aufsichtsbehörden, die Medien und eure Nutzer:innen - müssen verstehen, warum ihr diese Entscheidungen treffen musstet.
Der zweite Punkt ist das Gleichgewicht zwischen einer langfristigen Vision und einer kurzfristigen Umsetzung. Wenn man die richtige Vision hat, gibt es keinen Grund, sie zu ändern. Man muss also an ihr festhalten und immer wieder erklären, warum sie wichtig ist.
Was ihr braucht, ist eine gewisse Flexibilität und Anpassungsfähigkeit bei der kurzfristigen Umsetzung. Aus finanzieller Sicht kann es oft Ungewissheit und Grenzen geben.
Was sollte für eine Führungskraft wichtiger sein, der Shareholder Value oder die langfristige Vision?
Das eine schließt das andere nicht aus. Nehmen wir den Shareholder Value. Wenn ihr Aktionär:innen seid, habt ihr euer Geld wahrscheinlich wegen der erhofften Rendite investiert. Aber das heißt ja letztendlich auch, dass ihr an das Unternehmen glaubt. Wenn nicht, würdet ihr nicht investieren.
Für die Geschäftsführung ist es wichtig, den Zweck des Unternehmens gegenüber allen Beteiligten, einschließlich der Aktionär:innen, klar zu formulieren. Ihr müsst also genau wissen, was ihr für euer Unternehmen wollt und warum die Aktionär:innen bei euch investieren sollten.
Ein gutes Beispiel: Als Google 2004 an die Börse ging, schrieben die Gründer, Larry Page und Sergey Brin, einen Brief an die Investor:innen, in dem sie den Zweck des Unternehmens erläuterten. Sie erklärten, was ihnen wichtig war und bei welchen Themen sie niemals Kompromisse eingehen würden. Ich glaube, es ging auch um den Auftrag des Unternehmens und darum, dass dieser immer Vorrang vor kurzfristigen Finanzergebnissen haben würde.
All diese Informationen wurden der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und auch an Googles Mitarbeiter:innen geleitet. Das spielte eine große Rolle für die Art und Weise, wie das Unternehmen geführt wurde. Klare Kommunikation und Transparenz sind also absolut grundlegend.
Wir sprachen gerade über Entlassungen im Technologiesektor. Ist das eine vorübergehende Sache?
Da bin ich mir nicht sicher. Die meisten dieser Unternehmen waren wachstumsorientiert. Ihre Führungskräfte achteten auf die Bruttoeinnahmen und ein gutes EBITDA, d. h. konstante Rentabilität.
Eine Folge davon war, dass mit dem Umsatz auch die Zahl der Mitarbeiter:innen stieg. Es war nicht ungewöhnlich, dass die Belegschaft jedes Jahr um eine zweistellige Zahl wuchs. Jetzt, wo die finanzielle Situation dieser Firmen komplexer ist, haben sie erkannt, dass sie zu viele Mitarbeiter:innen eingestellt haben, und nehmen Anpassungen vor.
In Zukunft werden Anleger:innen von den Tech-Giganten erwarten, weniger schnell Leute einzustellen und ihre Personalstrategie an die Daten des Marktes anzupassen. Weiterhin bleibt der Fokus auf einen guten EBITDA wichtig, und da Gehaltszahlungen einen großen Teil der Kosten dieser Unternehmen ausmachen, wird dies ein Thema bleiben.
Hat die Pandemie die Grenzen der digitalen Technologie aufgezeigt und dass die Menschen sich nach mehr Offline-Erlebnissen sehnen?
Ich glaube, es ist viel komplexer. Es geht nicht um das eine gegen das andere. Wenn man sich anschaut, was während der Pandemie geschah, gab es eine Zunahme der Online-Dienste, z. B. die Zeit, die auf Netflix verbracht wurde, und auch die Zahl der online gekauften Waren stieg stark an.
Unternehmen wie Amazon und Google, insbesondere ihr Shopping-Service, expandierten. Wir haben also so etwas wie ein neues Gleichgewicht. Es ist keine Verlagerung von Online zu Offline oder umgekehrt, sondern vielmehr ein Zusammenspiel von beidem geworden.
Wie können Führungskräfte der mittleren und oberen Ebene Mikromanagement vermeiden?
Mikromanagement umgehen heißt, Verantwortung abzugeben und damit auch das Team zu ermutigen, seine Wirksamkeit zu spüren. Wenn man Mikromanagement vermeiden will, muss man im Unternehmen eine Kultur schaffen, in der sich die Mitarbeiter:innen in der Lage fühlen, Entscheidungen zu treffen und das Richtige für ihre Arbeit, das Unternehmen und ihre Kund:innen zu tun.
Es kommt also auch auf einzelne Teammitglieder an. Deshalb drehen sich einige der wichtigsten Entscheidungen, die man als Führungskraft treffen kann, darum, die richtigen Leute einzustellen. Und: wie ihr eure Abteilungs- und Teamleiter schult, damit auch sie nicht mikromanagen.
Man sollte ein Auge fürs Detail nicht mit Mikromanagement verwechseln. Nur weil man kein Mikromanagement betreiben will, gilt noch immer, dass der Teufel im Detail steckt!
Können Führungskräfte in der Wirtschaft auch Inspiration aus anderen Bereichen, z. B. dem Sport, der Kunst oder dem Militär, ziehen?
Ich denke, ob es nun Sport oder Business ist, tut nichts zur Sache. Es gibt im Managament überall Parallelen, denn es ist eine stark menschenbezogene Disziplin.
Wenn ihr eine Mannschaft von Fußballspielern trainiert, sind das alles fähige Leute, die ihr Handwerk verstehen. Aber der Erfolg der Mannschaft hängt davon ab, ob die Menschen zusammenarbeiten - der menschliche Faktor. Es gibt Geschichten aus dem Sport oder anderen Bereichen, aus denen man sicherlich Lehren für die Wirtschaft ziehen kann.
Es gilt, sich das herauszusuchen, was für den eigenen Fall gerade relevant ist. In welcher Phase befindet ihr euch: in der Krise oder im Wachstum? Müsst ihr in dieser Phase Entscheidungen für die Zukunft treffen oder euch auf kurzfristige Ergebnisse konzentrieren?
Gibt es eine bestimmte Führungspersönlichkeit, für die du besonderen Respekt empfindest?
Wir haben vorhin über den Sinn in der Arbeit und eine inspirierende Mission gesprochen. Jemand, der in dieser Hinsicht sehr einflussreich ist, ist der amerikanische Autor Simon Sinek. Seine Theorie lautet: Wir beginnen mit dem Warum und nicht mit dem Wie. Ich denke, dieser Gedanke ist für jede Führungskraft sehr wichtig.
Eine weitere Führungspersönlichkeit, wenn auch umstritten, ist für mich Peter Thiel, Mitbegründer von PayPal. In seinem Buch geht es um die Umwälzung einer Branche und darum, warum man seine Energie besser in neue, große Ideen steckt, anstatt etwas Bestehendes zu optimieren.
Einige der Reden von Barack Obama haben mich schon immer beeindruckt. Auch er ist eine große Führungspersönlichkeit, was die Kommunikation angeht.
Was würdest du einer angehenden Führungskraft empfehlen?
Heutzutage neigen die Menschen dazu, grundlegende Skills zu unterschätzen und Führungsqualitäten zu überschätzen. Man sollte gut darüber nachdenken, was gut ist und was hervorragend.
Wenn man Geschäftsführer:in werden will, sollte man natürlich auch Finanzwissen haben und verstehen, was finanzielle Gesundheit für ein Unternehmen bedeutet. Aber was den Unterschied zwischen „break it“ und „make it“ ausmacht, ist die Art und Weise, wie ihr Menschen ansprecht: euren Vorstand, Investor:innen, Mitarbeiter:innen, Kund:innen.
Es geht darum, andere Menschen zu verstehen und sie mitzunehmen. Daher ist jedes Fachgebiet, von der Psychologie bis zur Literatur, wichtig - alles, was die menschliche Seele berührt.
Du arbeitest viel mit Start-ups zusammen. Was zeichnet eine:n Unternehmer:in aus, die Vision oder die Umsetzung?
Für mich ist es, wie man die Dinge umsetzt. Man muss eine Idee haben, wenn man ein Unternehmen gründet, eine Vision und eine Mission.
Aber letztendlich kommt es auf die Art und Weise an, wie man diese Idee umsetzt. Ich sage immer, dass die Umsetzung 95 % des Gesamterfolgs ausmacht.
Ist Unternehmertum ein angeborenes Talent, oder etwas, das man lernen kann?
Es ist eine Denkweise - die Art, wie man über Risiken denkt. Selbst wenn man die richtigen Skills hat und eine gute Führungskraft sein könnte - wer sehr risikoscheu ist, ist wahrscheinlich kein:e Unternehmer:in.
Wenn es ums Gründen geht, ist Risikos eingehen von größter Bedeutung. Das bedeutet nicht, dass man verrückt sein muss. Aber man muss ein gewisses Maß an Risiko in Kauf nehmen und einschätzen können, was das richtige Verhältnis zwischen der Zeit und den Ressourcen ist, die man für dieses Risiko einsetzt - das macht gute Unternehmer:innen aus.